Nichts im Universum ist starr
Alles Lebendige in diesem Universum befindet sich in ständiger Bewegung, sagen die Tantriker. Sie stimmen an diesem Punkt mit der heutigen Physik überein, die belegt, dass jegliche Materie, wenn man sie um ein Vielfaches vergrößert, aus beweglichen Partikeln besteht – und aus ganz viel Raum dazwischen. Auch der griechische Philosoph Heraklit lag schon vor langer Zeit auf derselben Linie, als er konstatierte: „Alles fließt“ und „man kann nicht zwei Mal in denselben Fluss steigen“.
Wenn wir diesen Erkenntnissen folgen, gibt es mehrere Dinge, die wir verdauen müssen:
- dass ALLES im Wandel ist, dass nichts starr ist und auf immer so bleibt, wie es ist, einschließlich uns selbst
- dass es also keine Sicherheit gibt, die man auf materielle Dinge stützen könnte; dass also der Körper, materieller Besitz und die momentanen Lebensumstände vergänglich sind, und
- dass aber die meisten Menschen dennoch so tun, als könnten sie sich in ihrem Leben persönliche Komfortzonen schaffen und bewahren, (wir sprechen in diesem Zusammenhang gerne vom persönlichen Schrebergarten), in denen sie sich in Sicherheit befänden und ihr Leben unter Kontrolle hätten.
Wer sich auch auf einer inneren Ebene in seine Komfortzone zurückzieht, beginnt zu vermeiden, was den Status Quo bedrohen und zu fürchten, was zu einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse führen könnte. Der überwältigende Wunsch nach Sicherheit und die Angst vor Veränderung kann bewirken, dass man sich zunehmend vom natürlichen Strom des Lebens abschneidet. Man ist dann nicht mehr verbunden mit dem, was unentwegt, in jedem Moment, neu entsteht und wieder vergeht. Subjektiv kann sich das anfühlen, als sei einem alle Lebendigkeit abhandengekommen. Man funktioniert nur noch, während Stimmungen der Langeweile und Sinnlosigkeit sich breitmachen. In dieser bedrückenden, oft als ausweglos empfundenen Situation warten dann viele Süchte und (selbst)destruktive Verhaltensweisen, um das Ruder zu übernehmen.
Tantra – Lebendigkeit, Resonanz, Spontaneität
In der Praxis des ursprünglichen Tantrismus war es deshalb immer grundlegend, alle scheinbaren Sicherheiten als fiktiv zu entlarven und alle eingefahrenen Gewohnheiten bzw. starren Verhaltensformen aufzulösen, indem man sie wieder in Bewegung brachte. Im Tantrismus möchte man zur Spontaneität zurückfinden: einem umfassenden Gefühl der Lebendigkeit und Verbundenheit, das sich zwangsläufig einstellt, wenn man ohne Angst in eine umfassende Resonanz mit allen Erscheinungen des Lebens treten kann – so wie sie sich von Moment zu Moment neu präsentieren und nicht so, wie wir sie gerne hätten und fixieren möchten.
Für jemanden, der auf dieser Basis wachsen und sich als Mensch weiterentwickeln möchte, heißt das, immer wieder aufs Neue bereit zu sein, sich in unbekanntes Terrain vorzuwagen – an Orte, wo man noch nie vorher gewesen ist. Man muss über das hinausgehen, was man schon kennt. Und das bedeutet auch: lernen, die damit einhergehenden Ängste und Unsicherheiten auszuhalten, ohne die kein Wachstum möglich ist. Denn es ist nicht zu vermeiden, dass wir uns klein, unsicher oder jünger, als wir es tatsächlich sind, fühlen, wenn wir Neuland betreten. Denn hier müssen wir neue Erfahrungen integrieren, mit nichts Anderem ausgerüstet, als unserer Neugier, dem Mut unseres Herzens und unserer Offenheit. Experten können wir nur im vertrauten Schrebergarten sein, wo uns jeder Kohlkopf und jede Karotte (manchmal bereits bis zum Überdruss) bekannt sind. Um Neues zu lernen, braucht es den „Anfänger-Geist“, der demütig weiß, dass er noch nicht weiß und sich trotzdem von den auftauchenden Unsicherheiten nicht gleich abschrecken oder verwirren lässt. Wenn wir davon ausgehen, dass der Raum, den wir erforschen, unendlich ist, müssen wir uns auch keine Gedanken mehr darüber machen, wie „fortgeschritten“ wir auf unserem Weg bereits sind, und was wir alles schon „wissen“ müssten. Es gibt dann kein Ende der Suche, weil es immer etwas geben wird, das neu für uns ist. Wir sind dann einfach Lernende und Staunende, auf Lebenszeit.
Die Komfortzone verlassen
Dasselbe gilt für Beziehungen. Wir wünschen uns Stabilität, doch wenn wir wollen, dass unsere Beziehung lebendig bleibt, müssen wir immer wieder die Komfortzone verlassen, ungelöste Probleme ansprechen und uns mit dem Wesen der Beziehung auseinandersetzen. Statt zu erwarten, dass uns der Partner hält und auffängt, müssen wir selbst stärker und stabiler werden, Halt in uns selbst wiederfinden und zunehmendes Vertrauen in den Fluss des Lebens entwickeln. Wir müssen zutiefst realisieren, dass wir nicht von außen bekommen werden, wonach wir uns sehnen. Wir müssen uns vielmehr Schritt für Schritt und in eigener Praxis als Mensch weiterentwickeln, indem wir eigene verantwortliche Handlungen setzen, unsere Ängste bewältigen lernen und unsere innewohnenden Qualitäten in ehrlicher innerer Arbeit nach und nach freisetzen.
Es ist eine Arbeit, die sich lohnt und zu der wir auch weiterhin herzlich einladen möchten. Innere Arbeit wird nicht bewirken, dass man in seinem Leben keine Probleme mehr hat. Sie möchte vielmehr die Verbindung zum Leben wiederherstellen, indem man sich selbst wieder als lebendiges Wesen erfährt – warmblütig im Körper, präsent in der Frische des Augenblicks, in Kontakt mit seinen inneren Ressourcen und verbunden mit dem großen Ganzen.