Selbstliebe und Selbstannahme entwickeln
Eine ganz grundlegende Voraussetzung für innere Arbeit und für Beziehungsfähigkeit im Allgemeinen ist die Entwicklung von Selbstliebe und Selbstannahme: wie kann ich mit mir selbst so vertraut werden, dass ich alles, was sich in mir bewegt, anschauen, spüren und als Teil meiner selbst umarmen kann? Wie kann ich meine Talente und Gaben annehmen und verwirklichen, und mich gleichzeitig auf erwachsene Art um meine Ängste, inneren Defizite und verletzten inneren Orte kümmern?
Wenn wir zunehmend damit vertraut werden, uns auf diese Art zu erkunden, werden wir nicht mehr von Zielen oder Vorstellungen getrieben, die wir erreichen oder denen wir entsprechen müssten. Egal, was wir erkunden, wir sind immer auf dem Weg zu uns selbst. Wir möchten nicht im Morgen ankommen, sondern im Jetzt: was momentan gerade in mir auftaucht, führt mich zum stimmigen nächsten Schritt, wenn ich jetzt wach dabei bin und mitgehe. Wir bleiben dran und lassen uns von Schwierigkeiten nicht gleich entmutigen. Wir lernen, wie wir unseren inneren Kritiker, unsere Ängste und Spannungen regulieren können. Wir gehen immer weiter auf diesem Pfad der Erkundung, der kein Ende hat und daher ein lebenslanger Pfad ist. Wir möchten unser Leben wirklich nützen, um die großen wichtigen Lebensfragen auszuleuchten: Wer bin ich? Was ist das Leben? Was ist ein anderer Mensch?
Während wir auf diese Weise reifen, entstehen sowohl im Beziehungsleben, als auch auf dem Selbsterkundungsweg langsam neue Erfahrungsmöglichkeiten.
In unserer Beziehung begreifen wir unseren Partner zunehmend als realen eigenständigen Menschen, dem wir mit Respekt und Mitgefühl begegnen und den wir wertschätzen, weil wir ihn in seinen tiefsten Potenzialen und Persönlichkeitsschichten kennenlernen.
Auf der inneren Ebene unserer Selbsterkundung lernen wir nach und nach klarer zu unterscheiden zwischen unserem essentiellen Selbst und unserer konditionierten Persönlichkeit; zwischen verkörperter Präsenz und reaktivem Automatismus. Wir machen erweiternde Erfahrungen, bei denen wir uns auf eine Weise wahrnehmen, die über unser gewohntes Selbstbild hinausgeht und entwickeln den Zugang zu essentiellen Qualitäten wie z.B. Liebe, Stärke, Wille, Vergnügen. Es ist ein wichtiger Schritt in der Selbst-Realisation, all diese Dinge in uns zu finden, sie auf intime Weise kennenzulernen, und uns als diese Präsenz, diese Tiefe und Weite zu erfahren.
Innere Erfahrungen im Leben verkörpern
Doch es gibt noch einen weiteren Schritt auf dem Weg, der ebenso wichtig ist und den manche Schulen als den schwierigeren Schritt ansehen. Dieser besteht darin, nicht nur in unserem Inneren zu wissen, zu verstehen und zu erfahren, sondern all das auch in unserem konkreten Leben umzusetzen. Jede Erkenntnis, und sei sie noch zu klein, sollten wir umgehend im Alltag erproben. Dieser Praxis folgen heißt, in unserem Leben so zu handeln und zu kommunizieren, dass unsere authentische Präsenz zum Ausgangspunkt unserer Aktion und Kommunikation wird. Es geht darum, dass wir unseren persönlichen, authentischen Ausdruck finden. Jeder Mensch, so heißt es in verschiedenen spirituellen Schulen, ist eine individuelle Manifestation „wahrer Natur“ – durch sein Leben, durch sein Lernen und Verstehen entwickelt sich seine Seele und nimmt eine individuelle Form an.
„Das wahre Selbst ist die Selbsterfahrung des Ganzen in einer verletzlichen Individualität“, schreibt der Philosoph Andreas Weber in einem seiner Bücher.
Die Qualitäten und Dimensionen der „wahren Natur“ sind allen Menschen potenziell zugänglich und doch hat jeder von uns, eine ganz eigene Art, sie zu erfahren und auszudrücken. Jeder von uns ist im großen Meer des Ganzen ein Tropfen, durch den sich das Ganze auf individuelle Weise erfährt. Diese persönliche Art wird in der Ridhwan-Schule „die Perle von unschätzbarem Wert“ genannt, die persönliche Essenz.
In die Welt hinaustreten
Damit diese einzigartige persönliche Realisation wahrer Natur sich ausdrücken kann, muss man hervortreten und sichtbar werden. Es geht darum, in die Welt hinauszutreten, sich zu zeigen und seine einzigartigen Qualitäten in die Welt mitzunehmen. Sich zeigen heißt auch, sichtbar zu machen, was dich von anderen unterscheidet. Es ist ein Schritt, für den du Mut brauchst, weil er deine „verletzliche Individualität“ offenbart. Denn du kannst dein persönliches Sein nicht in die Welt bringen, wenn du dich schützt oder abschottest, sondern nur, indem du die Welt mit deinem authentischen Ausdruck berührst und dich von der Welt berühren lässt. Dein Sein wirkt auf die Welt ein, und die Welt umgekehrt auf dich. Persönliche Realisation reift heran, indem sie mit der Welt, mit anderen Menschen und Phänomenen interagiert. „Jede Erfahrung“, schreibt Andreas Weber, „ist eine Berührung, und jede Berührung ist eine Verwandlung.“
Sichtbar sein kann sich riskant anfühlen
Auch dieser zweite Schritt kann wieder eine Menge an Themen hervorbringen, die jeder erkunden und durcharbeiten muss. Sich in seiner Authentizität zu zeigen, kann sich gefährlich und riskant anfühlen. Denn ganz man selber sein kann sich anfühlen wie nackt sein, ohne Abwehr und den gewohnheitsmäßigen Schutz. Wer sichtbar ist, macht sich auch angreifbar. Solange wir unsere Einzigartigkeit kennen, sie aber gewohnheitsmäßig zurückhalten, besteht kein Risiko. Ebenso wenig, wenn wir nur im Rahmen von Übungen darüber reden. In die Welt hinauszutreten und sie tatsächlich zu verkörpern, ist eine andere Sache, die auch viele narzisstische Themen hochbringen kann: werde ich richtig gesehen? Werde ich richtig verstanden? Was denken andere über mich?
Das sind Fragen, die uns auch im Rahmen einer Beziehung umtreiben, wenn wir uns um Authentizität bemühen. Auch hier geht es darum, Verteidigungshaltungen abzubauen, sich zu offenbaren und voreinander „nackt“ zu werden. Das wird allerdings nur möglich sein, wenn wir uns selbst darum kümmern, ein gutes Selbstgefühl aufzubauen und unseren Partner nicht für unser Glück oder Unglück verantwortlich zu machen.
Wir sorgen uns oft sehr, ob wir wohl in unserer Einzigartigkeit gesehen werden, doch in dieser Praxis des Sich-Öffnens der Welt gegenüber geht es eher darum, seine Interaktionen mit der eigenen Authentizität und Wahrheit zu füllen. Wir wollen vor allem ganz wir selber sein, statt mehr herauszuragen als andere.
Auch dies ist ein Lernprozess ohne Endpunkt, bei dem wir heranwachsen und reifen, unsere Geschichte verdauen und uns aus unseren gewohnheitsmäßigen Mustern und Automatismen lösen – um in einen frischen und lebendigen Austausch mit der Welt zu kommen. Wir können getrost davon ausgehen, dass wir auch auf dieser Ebene ein Leben lang dazulernen können.
Eigentlich gibt es keine Alternative
Sich selbst zu erkunden ist herausfordernd, aber es gibt eigentlich keine echte Alternative dazu. Und das Hinaustreten in die Welt ist ein integraler Bestandteil dieser Erkundung. Wenn du dich zeigst, machst du, wie Amerikaner zu sagen pflegen, einen Unterschied (to make a difference). Denn wärest Du nicht hier, würde niemand die Stelle einnehmen, an der Du jetzt gerade atmest und handelst.
Ich möchte mit einem Wort von Hermann Hesse abschließen:
„Indem ein Mensch mit den ihm von Natur gegebenen Gaben sich zu verwirklichen sucht, tut er das Höchste und einzig Sinnvolle, was er tun kann.“