Verbundenheit und Freiheit: ist das vereinbar?
Wer sich ernsthaft mit seiner Liebes- und Beziehungsfähigkeit auseinandersetzt und auf dieser Ebene wachsen möchte, kommt an einigen grundlegenden Fragen nicht vorbei: wie kann ich Verbundenheit mit anderen Menschen erleben und gleichzeitig ganz ich selber sein? Oder mit anderen Worten: wie kann ich mein Bedürfnis nach Intimität, Nähe und nach einer Paarbeziehung zu einem geliebten Menschen mit der Notwendigkeit in Einklang bringen, dass ich mich auch als Individuum weiterentwickeln möchte und muss? Wie kann ich meiner persönlichen Evolution treu bleiben, während ich gleichzeitig verbindliche Beziehungen eingehe? Wie jeder weiß, der über die erste Verliebtheitsphase hinaus mit jemandem zusammenbleibt, sind es diese Themen, an denen sich die allermeisten Beziehungskämpfe entzünden, und die die jeweiligen Charakterstile veranlassen, sich in die Kampfarena zu stürzen.
Warum ist das so? Da ist einerseits die Tatsache, dass die allermeisten Menschen, die Beziehungen eingehen, sich nicht vollständig zu Individuen differenziert haben, die auf eigenen Beinen stehen: es gibt psychische Löcher, Altlasten, unerfüllte Bedürfnisse, traumatische Erfahrungen. Und auf der anderen Seite steht der oft unbewusste Wunsch, im Rahmen einer Beziehung Schutz und Sicherheit zu finden, und seine Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Doch obwohl wir uns von unseren intimen Beziehungspartner:innen Freundlichkeit und Zugewandtheit erwarten dürfen, ist dieser Anspruch letztendlich nicht realistisch: kein anderer Mensch kann allen diesbezüglichen Erwartungen gerecht werden. Und so ist es unvermeidlich, dass unsere „wunden Punkte“ angerührt werden, besonders dann, wenn wir uns tatsächlich für Liebe öffnen und defensive Haltungen aufgeben. Jemanden von ganzem Herzen lieben heißt eben immer auch: mit dem Schmelzen unserer Schutzschichten kommen auch alle Themen wieder hoch, die uns seinerzeit veranlasst haben, unser Herz zu schützen. Die wunden Punkte, die hier angerührt werden, sind vielfältig und sie kommen mit großer Sicherheit an die Oberfläche.
Warum? Weil man sie durcharbeiten muss, wenn man als Mensch wachsen möchte (was wiederum die Voraussetzung für Beziehungsfähigkeit ist).
David Schnarch: emotionale Patts als „Motor der Evolution“
Der amerikanische Paartherapeut und Buchautor Dr. David Schnarch geht noch einen Schritt weiter: er sieht die „emotionalen Patts“, in denen Paare sich über kurz oder lang wiederfinden, als ein geniales evolutionäres Programm der Natur, als einen entscheidenden Motor der Evolution, der das Beste in den Beteiligten wachruft – er bewirkt, so Schnarch, dass jeder Einzelne sich als Mensch weiter differenzieren und neue, bisher ungelebte Eigenschaften entwickeln muss, wodurch sich als Folge neue realere Wege der Bezogenheit entwickeln und sich neue Verdrahtungen auf der Ebene des Gehirns ausbilden.
Als „Mensch in Beziehung“ kommst Du zwangsläufig immer wieder mit Deinen „Schmerzpunkten“ in Kontakt. Für den Umgang damit stehen Dir im Rahmen einer Beziehung nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten zur Verfügung:
1) Dominanz/Kontrolle
2) Unterwerfung/Selbstaufgabe
3) Rückzug/Betäubung/Verleugnung oder
4) Weiterentwicklung
Weiterentwicklung in einer Beziehung bedeutet: beide Beziehungspartner wachsen im Rahmen dieser Beziehung als Menschen weiter – reifen also zu eigenständigen, innerlich gefestigten Personen. Die Anstöße dazu kommen garantiert aus der jeweiligen Beziehungsdynamik, die alle Themen aufzeigen wird, wo es noch zu lernen, zu integrieren und zu verstehen gibt. Sie aufzugreifen und sich auf Weiterentwicklung auszurichten, könnte man als eine Art der spirituellen Praxis beschreiben.
Denn als Beziehungswesen lernen wir hauptsächlich durch andere über uns selbst – wenn wir dazu bereit sind….
„In einer würdigen zwischenmenschlichen Beziehung,
in der zwei Personen zu Recht von Liebe sprechen,
vertieft sich die gegenseitige Offenheit der beiden.
Ihre Liebe führt sie zu immer wahrhaftigeren Begegnungen.
Nur so lassen sich Selbsttäuschung und Isolation überwinden.“
Adrienne Rich