Im Kontext unserer Arbeit ist das Herz das Zentrum unserer Praxis – nicht das physische Herz, sondern das spirituelle Herz, das sich in der Mitte unserer Brust befindet. Interessanterweise wird in verschiedenen Traditionen, z.B. in der buddhistischen Tradition, nicht zwischen „Herz“ und „Geist“ unterschieden, es gibt Worte, mit denen beide Begriffe gleichzeitig gemeint sind. Daher ist oft vom „Herz-Geist“ die Rede und es ist das Ziel jeglicher spirituellen Praxis, diesen „Herz-Geist“ zu entspannen und zu öffnen, sodass sich das Herz auch in schwierigen und herausfordernden Situationen nicht verschließt und der Geist nicht durch Voreingenommenheit, Vorurteile oder dogmatische Urteile eingeengt wird. Buddhisten beziehen sich auf beide Begriffe, wenn sie vom „offenen unbegrenzten Gewahrsein“ sprechen – also der Fähigkeit, in Klarheit und Präsenz mit allem zu sein, was jeweils von Moment zu Moment im Feld unseres Gewahrseins auftaucht.
Von Pema Chödrön, eine Schülerin von Chögyam Trungpa, stammt dieses eindrückliche Zitat: „Egal, was gerade als Nächstes um die Ecke kommt – wir stehen immer im Zentrum des Lebens, mitten in einem heiligen Raum und alles, was in diesen Kreis kommt und dort mit uns existiert, ist gekommen, um uns etwas zu lehren, was wir wissen müssen.“
Unsere gestörte Beziehung zum Augenblick
Leider ist die Beziehung der meisten Menschen zum Hier und Jetzt – zu der Form, die es gerade annimmt – voller Störungen: wir haben ein generelles Problem damit, aus unserem Sosein heraus in Kontakt mit der Welt zu treten. Solange wir mit unserem Ego – also unserer konditionierten Persönlichkeit – identifiziert sind, beziehen wir unser Selbstgefühl aus der Vergangenheit, suchen Erfüllung in der Zukunft und versäumen in dieser Dynamik den authentischen Kontakt mit der Präsenz des Augenblicks. Wir sind nicht wirklich da, unser Empfangs- und Sendesystem ist nicht auf Gegenwart eingestellt. Wir befinden uns stattdessen im gewohnten Film unserer Vergangenheit.
Wer mit einer Praxis der Achtsamkeit beginnt, kommt irgendwann zur Erkenntnis, dass ein innerer Teil von uns sich regelrecht dagegen wehrt, einfach nur hier zu sein – weil uns „einfaches Hiersein“ mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens konfrontiert und unbekanntes Terrain eröffnet, wo wir die Dinge nicht mehr „im Griff“ haben.
Das macht uns Angst und kann sich anfühlen wie ein Abgrund. Gerade in Phasen, wo wir uns von einem gewohnten Bewusstseinszustand zu einem anderen hinbewegen, tauchen unweigerlich auch Gefühle der Verwirrung auf. Wenn alte Ideen schwinden und neue Möglichkeiten das Licht der Welt erblicken, sind wir alles andere als souverän – es ist eher eine Erfahrung, die uns demütig macht.
Sich in den gegenwärtigen Moment hinein entspannen
In jeder wahren spirituellen Praxis geht es nun genau darum: sich in den gegenwärtigen Moment hinein zu entspannen, egal wie er sich präsentiert, sodass wir lernen, mit dem Unbekannten in unserem Leben flexibler und angstfreier umzugehen. Das Leben ist immer unvorhersehbar und bringt uns immer wieder in Situationen, wo wir den gewohnten Halt unter den Füßen verlieren. Dann stehen wir am Rand eines ungewissen oder unbequemen Raumes und müssen einen Schritt über unsere gewohnten Grenzen gehen. Mit der Zeit können wir Neugier entwickeln für das Unbekannte und vielleicht sogar beginnen, uns in der Unvorhersehbarkeit zu Hause zu fühlen.
Um es mit den Worten des buddhistischen Lehrers Chögyam Trungpa auszudrücken, müssen wir lernen, „uns auf eine neugierige und umfassende Weise für das Leben zu interessieren“, statt die unvermeidlich auftauchenden Komplikationen des Lebens als einen ständigen Kampf zu betrachten. Denn innerer Kampf bedeutet: wir möchten das Leben nicht so nehmen, wie es ist. Unser innerer Entwicklungsweg beginnt oft mit der Erkenntnis, dass wir nicht nur ständig unsere Erfahrungen im Leben zurückweisen, sondern sehr oft das Leben als Ganzes ablehnen. Es kann z.B. regelrecht erschreckend sein, wenn wir an uns selber wahrnehmen, wie oft wir uns aus der gefühlten Erfahrung entfernen, sobald unbekannte oder unangenehme Gefühle auftauchen.
Symptome davon sind, dass wir oft anders sein wollen, als wir eben sind; an einem anderen Ort sein wollen, als dort, wo wir uns momentan aufhalten und gerne mit anderen Menschen wären, als mit denen, mit denen wir in diesem Augenblick sind. Unser Geist ist ständig anderswo und schweift wie ein Affe umher: er fantasiert über dies und jenes, denkt an ein Gespräch, das vor einem Jahr stattgefunden hat, oder an eine Liste der zu erledigenden Aufgaben. Wir bewerten andere Menschen und uns selbst, beschuldigen andere, ärgern oder bemitleiden uns.
Akzeptanz und Selbstliebe
Hier kommen zwei der vielen Herzqualitäten ins Spiel: Akzeptanz und Selbstliebe. Wir müssen diese Qualitäten entwickeln, weil Selbsterforschung nur möglich ist, wenn wir uns ohne jegliche Verleugnung betrachten und uns den jeweiligen Tatsachen stellen können.
Daher kann es ohne Schulung in Achtsamkeit und Präsentsein keine echte innere Entwicklung geben. Wir brauchen Offenheit und Neugier, damit wir in der Lage sind, auftauchende Erfahrungen wahrzunehmen, ohne sie gleich in ein bereits existierendes Glaubenssystem einzuordnen. Wir möchten herausfinden, was die Wahrheit einer Sache ist, statt einfach nur bestimmte Überzeugungen zu bestätigen. Und wir brauchen meditatives Eingestimmt-Sein – also die zunehmende Fähigkeit, hier und jetzt bewusst zu sein, aktuelle Gefühle und Bewusstseinsstadien wahrzunehmen und die feinen Empfindungen zu beobachten, die sich durch unser System bewegen.
Im Tantrismus möchten wir alle diese Dinge nicht nur beobachten, sondern fühlend mit ihnen sein. Wir möchten an der Quelle dessen, was geschieht, anwesend sein, als lebendige vollblütige Wesen. Wir möchten alles, was in unserer Erfahrung auftaucht, rückhaltlos zulassen, statt zu selektieren; möchten tatsächlich berühren, riechen, schmecken, hören und fühlen – denn „ohne eine wirkliche Verbundenheit mit den Dingen öffnet sich das Herz nicht“ (Lalita Devi).
Wir freuen uns, diesen Weg mit Dir zu teilen und Dich vielleicht auf einer unserer Veranstaltungen kennenzulernen oder wiederzusehen. Alle, die an einer ernsthaften Meditations-Praxis interessiert sind, laden wir herzlich zur wöchentlichen Online-Meditation am Dienstagmorgen ein.