Der Weg der Selbsterkundung: Illusionen und Realitäten

Es beginnt oft mit irrealen Vorstellungen und Fantasien

Wer sich ernsthaft auf Selbsterkundung einlässt, stellt fest, dass sich die eigenen Vorstellungen, worum es dabei eigentlich geht, im Lauf des Weges nachhaltig verändern. Und nachdem die Phasen, die man auf diesem Weg durchgeht, erstaunlicherweise denen ähneln, die man auch im Rahmen einer Beziehung erfährt, möchte ich in diesem Blog-Beitrag genauer darauf eingehen.

Die anfänglichen Erwartungen haben hier wie dort oft eine Note, die an kindliches magisches Denken erinnert. So glaubt jemand, der sich in einen anderen Menschen verliebt oft, dass seine gesamten Probleme nun mit einem Schlag gelöst seien. Und auf ähnliche Weise wenden sich viele Menschen ursprünglich der Selbsterfahrung zu: sie sind mit sich und ihren Lebensumständen unzufrieden und erhoffen sich, unliebsame Wesensanteile loszuwerden und möglichst schnell ein anderer, besserer Mensch zu werden. Auch der Selbsterfahrungsweg kann so beginnen wie eine Liebesromanze: Türen öffnen sich, man erlebt Weite, Liebe und einen Raum der neuen Möglichkeiten. Das eigene Selbstbild, die eigenen Gefühle, die eigene Lebendigkeit: alles kommt wieder in Bewegung, man möchte fließen und sich neu ausdrücken.

Aber genauso wie in der romantischen Liebe, verblassen auch hier die schönen Erfahrungen mit der Zeit – auch wenn wir alles tun, um sie festzuhalten. Alte Themen kehren in neuer Inszenierung wieder zurück. Altbekannte persönliche Unzulänglichkeiten drängen sich wieder in den Vordergrund und werden vom eigenen inneren Richter angeprangert. Mit einem Wort: unser kurzzeitiger Höhenflug endet wieder auf dem Boden der Tatsachen.

Krise: wenn unsere Vorstellungen sich nicht erfüllen

Diese Ernüchterung ist unvermeidbar, denn illusorische Erwartungen haben eben nur eine kurze Haltbarkeitsdauer und können uns nicht dauerhaft vor der Realität schützen. Dennoch empfinden wir diese Entwicklung als Verlust, oft als ein persönliches Versagen und reagieren dementsprechend: mit depressiven Verstimmungen, mit Ärger, Widerstand, und verstärkten Bemühungen, den verlorenen Zustand wiederherzustellen.

In Beziehungen beginnen wir an diesem Punkt mit der Beziehungsarbeit: gemäß unseren Vorstellungen davon, wie unser Partner und wie die Beziehung sein sollte, arbeiten wir nun an allen Störungen, die nicht in unser Bild passen (Störungen sehen wir in dieser Phase vorzugsweise bei der anderen Person).

Auch auf dem Weg der Selbsterfahrung fantasieren wir uns ein Idealbild unserer selbst zurecht und dazu gleich noch den idealen Weg zu dessen Realisierung: So müsste man sein, so müsste man empfinden; das müsste man tun, dass müsste passieren, um dorthin zu gelangen, wo wir hinmöchten! Tief innen fühlen wir uns defizitär und betrachten das Leben aus einer Perspektive, wo uns etwas fehlt. Dieses Fehlende suchen wir nun im Außen, in der kindlichen Vorstellung, wir könnten es nur da finden, um es uns anzueignen und einzuverleiben. So bemühen wir uns, klappern Lehrer und spirituelle Meister ab, meditieren bisweilen, lesen kluge Fachbücher, vergleichen uns mit anderen, verlieren uns im Tun. Unser „innerer Kritiker“ ist hochaktiv, denn unter unserem Anspruch, perfekt sein zu müssen, lauert ein beständiges Gefühl der Mangelhaftigkeit.

Über kurz oder lang führt uns dieser Weg in eine große Krise, ähnlich den Momenten in einer Beziehung, wo man realisiert, dass man auf die alte Art nicht mehr weiterkommt und mit dem Rücken zur Wand steht. Es ist jener Punkt, wo man entweder weggeht, den Partner oder den Lehrer wechselt, oder – in einem oft längeren und schmerzhaften Prozess – zu einem neuen Blickwinkel findet: statt weiter nach außen zu schauen, beginnt man nach innen zu blicken.

Vielleicht beginnt man zum ersten Mal zu begreifen, was die eigentlichen Grundlagen einer echten Beziehung oder eines aufrichtigen Selbsterkundungsweges sind: sich selbst wirklich kennen lernen, überall hinschauen, alles erforschen, egal was es ist – das Schöne und Erhabene ebenso, wie das Hässliche und Verleugnete, Liebe und Angst, Licht und Schatten, Qualitäten und Defizite. Wir erkennen, dass wir uns nur selbst finden können, wenn wir uns ganz und uneingeschränkt annehmen lernen, „mit Warzen und allem“, wie David Schnarch, der kürzlich verstorbene amerikanische Paar- und Sexualtherapeut, das so pointiert ausgedrückt hat. Selbsterkundung bedeutet also immer, alles gleichermaßen zu erkunden, zu verdauen und zu sich zu nehmen, ohne Wertung und Abwehr.