Auf eigenen Beinen stehen lernen
Differenzierung ist eine wichtige Grundlage, wenn es um unsere Beziehungsfähigkeit geht. Wenn wir erwachsene Beziehungen führen möchten, müssen wir über unseren kindlichen Wunsch nach Fremdspiegelung und äußerer Bestätigung unseres Selbstbildes hinauswachsen und unsere eigenen Qualitäten und Fertigkeiten entwickeln – also lernen, auf unseren eigenen zwei Beinen zu stehen. Eine andere Definition von Differenzierung wäre: wir entlassen den anderen aus dem Klammergriff der eigenen Abhängigkeiten und Forderungen und übernehmen die vollständige Verantwortung für unser eigenes Glück oder Unglück, und für die Erfüllung unserer Wünsche und Bedürfnisse. Das wäre zumindest der ferne Leuchtturm, den wir auf unserer Reise zur persönlichen Reife in Beziehungen ansteuern sollten.
Beziehung besteht aus Eigenständigkeit und Verbundenheit
Aber das Bild bleibt unvollständig ohne die Frage, wie Intimität zwischen Menschen eigentlich zustande kommt. Tatsächlich besteht echte Bezogenheit nicht nur aus Autonomie (also aus der Verkörperung der eigenen Einzigartigkeit, bzw. der „Perle“, wie wir es in der Ridhwan-Schule nennen würden), sondern auch aus echter Verbundenheit (was die Aspekte des Verschmelzens, des Eins-Seins und der süßen Liebe beinhaltet).
Es genügt also nicht, nur an der eigenen Autonomie zu arbeiten; wir müssen uns parallel dazu auch um jene Grundlagen bemühen, auf deren Basis Verbundenheit erst möglich wird. Doch ebenso gilt: es braucht ein solides Gefühl von Autonomie, um wirklich fähig zu sein, mit jemand anderem zu verschmelzen. Ohne diese Grundlage fühlt sich Verschmelzen gefährlich an, wir haben Angst, uns in der Intimität zu verlieren.
Sich in Anwesenheit eines anderen Menschen sicher fühlen
Wichtige Erkenntnisse zu den Voraussetzungen für Intimität kommen aus den Forschungen der Neurobiologie. Wir wissen heute: für die Erfahrung des süßen Schmelzens braucht es eine umfassende Entspannung des Nervensystems. Und damit unser System tatsächlich auf diese Weise entspannen kann, müssen wir auf tiefer Ebene erfahren, dass wir uns in Anwesenheit eines anderen Menschen sicher fühlen können. Ohne dieses Gefühl der Sicherheit verbleiben wir in einer archaischen Grundanspannung, die wir beständig aufrechterhalten, um auf auftauchende Gefahren jederzeit reagieren zu können. Das gilt besonders für Menschen, denen es nicht vergönnt war, in ihrer ursprünglichen Familie ein Gefühl der Sicherheit zu erleben.
Was braucht es also, damit Menschen miteinander entspannen und sich sicher fühlen können?
Der Neurobiologe und Begründer der Polyvagal-Theorie, Stephen Porges, postuliert als Voraussetzung für Liebe, Bindung und Nähe, dass Menschen die Fähigkeit zu reziproker Interaktion entwickeln – also imstande sind, wechselseitige Beziehungen aufzubauen, in denen die Beteiligten auch in der Lage sind, sich miteinander zu regulieren und zu entspannen.
Reziproke Interaktion erzeugt persönliche Intimität, welche die Kluft zwischen dem Selbst und einer anderen Person zu überbrücken vermag. Zwei starke Individuen sind nötig, die einen warmen persönlichen Kontakt herstellen können, welcher komplementäre Energien und Qualitäten aushalten kann. Wir sprechen hier von einem Zusammentreffen von Ich und Du auf einer zutiefst menschlichen Ebene, wo alle Unvollkommenheiten willkommen sind und ein tiefes Verständnis für die Andersartigkeit des Gegenübers da ist. Im Unterschied zu einer Bezogenheit, in der wir die andere Person nur als Objekt wahrnehmen, das dazu dient, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, sehen wir hier unseren Partner als Subjekt mit einer eigenständigen inneren Realität, die wir wahrnehmen und respektieren.
In einem nächsten Blog-Beitrag werde ich genauer auf die Grundlagen der reziproken Interaktion eingehen.