(erstmals in verkürzter Form veröffentlicht in der österreichischen Zeitschrift „TAU“ 2015)
Wie sich mein Verständnis zu Ekstase und Sexualität entwickelt hat
Als ich begann, über mein persönliches Verständnis von „Ekstase und Sexualität“ nachzudenken, stellte ich als erstes fest, dass ich das Wort „Ekstase“ in meiner mehr als 35-jährigen praktischen Arbeit mit Sexualität und auch privat kaum verwende – und wenn, dann nur mit größtmöglicher Präzision. Da geht es mir ähnlich, wie mit den Begriffen „Tantra“ oder „Liebe“, die so oft auf eine Weise verwendet werden, dass von ihrer ursprünglicher Bedeutung und makellosen Tiefe nur noch ein trivialer und verzerrter Abklatsch übrig bleibt. Bisweilen scheinen eher bestimmte eingeengte Vorstellungen und Erwartungen im Vordergrund zu stehen, ohne wirkliche Kenntnis der tatsächlichen Erfahrungsdimension. Ich möchte mich diesbezüglich gar nicht ausnehmen, denn ich habe zu Beginn meiner Karriere als Gruppenleiter selbst verschiedene Begriffe verwendet, die ich erst viel später in ihrer Tiefe begriffen habe, oder selbst verkörpern konnte – und ertappe mich manchmal auch heute noch dabei.
Auf das erste „Neo-Tantra-Buch“ stieß ich in den späten 1970-er Jahren. Ich lebte zu dieser Zeit in einer chaotischen studentischen Wohngemeinschaft, die für mich den Ort darstellte, an dem ich viele neue Facetten meiner Sexualität entdeckte. Die Wucht, mit der die sexuelle Dimension in mein junges Leben einbrach und das damit einhergehende Gefühl der Freiheit, Selbstbestimmung und Experimentierlust, passten wunderbar zur Vorstellung, dass man das sexuelle Erleben durch verschiedene Techniken noch weiter bis ins Kosmische hinein steigern könnte und dass die totale Befreiung und Kultivierung der Sexualität letztendlich zu einer vollständigen Transformation der Persönlichkeit führen könnte. Diese Vorstellung war auch Grundlage meiner ersten Tantra-Trainings als Teilnehmer: dass man nämlich über das Praktizieren von „tantrischem Sex“ automatisch in höhere Bewusstseinsebenen gelangen könnte, wo sich alle emotionalen Verwirrungen und persönlichen Probleme ganz einfach und ohne weiteres Zutun auflösen würden. Wir strebten damals „Gipfelerfahrungen“ an, wollten also durch Anwendung bestimmter Techniken Erfahrungen erzeugen, die gar nicht spektakulär, multipel oder kosmisch genug sein konnten – wie immer gemacht und künstlich erzeugt sie auch waren. Wir suchten die ultimative Erfahrung, das finale Erleuchtungserlebnis, das uns auf einen Schlag aus der Misere unserer persönlichen Verwirrungen und emotionalen Dilemmata befreien sollte.
Ich will nicht leugnen, dass man auf diese Weise interessante, erregende und bisweilen (neben der ganzen Anstrengung) auch vergnügliche Dinge erleben kann. Doch kann man diese Erfahrungen nun „ekstatisch“, oder gar „tantrisch“ nennen? Ich tue das aus heutiger Sicht nicht mehr, sondern denke, dass der Versuch, ekstatische Erfahrungen durch einseitige Fokussierung auf Sexualität erzeugen zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn es gibt ein simples Problem: es ist unser Bewusstseinsstand, der unsere Welt erschafft. Nur wenn sich unser Bewusstsein verändert, können wir auch neue Räume der Wahrnehmung betreten. Wie kann also jemand, der seine Sexualität unbewusst, egoistisch und gierig praktiziert – voller Anspannung und falscher Erwartungen, gefangen in einem sexuellen Aktionsmuster, das ständig wiederholt wird – ernsthaft erwarten, dass er damit eine reale Bewusstseinserweiterung bewirkt?
Ich habe also im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte weitergesucht – mit Hilfe von Lehrern und Meistern, durch eigene Praxis, im Zusammensein mit meiner Frau und in der Arbeit mit tausenden Menschen. Viele meiner ursprünglichen Vorstellungen sind dabei auf der Strecke geblieben und haben einer realeren Sicht der Dinge Platz gemacht.
Die tantrische Sichtweise
So weiß ich heute, dass der ursprüngliche Tantrismus keine besondere Herausstellung der Sexualität kennt. Statt die Sexualität isoliert von allem anderen zu betrachten, wendet er sich dem Leben in seiner Gesamtheit zu (in dem die Sexualität genauso wichtig ist, wie alles andere auch) – mit dem Ziel, alle Erscheinungen mit Bewusstsein zu durchdringen. Es geht dabei weder darum, etwas erzeugen zu wollen oder zu favorisieren, noch darum, etwas zu vermeiden oder auszugrenzen, sondern zunächst einmal einfach darum zu lernen, mit allem entspannt präsent zu sein, was das Leben uns jeweils als Erfahrung darbietet. Eine wichtige Rolle spielt der Körper mit seinen wunderbaren Sinnesfunktionen, und der entspannte Atem, die beide wie die Saiten eines Musikinstruments richtig eingestimmt werden müssen, damit wir überhaupt erst in der Lage sind, die Welt real wahrzunehmen. Wir lernen zu entspannen: körperlich, emotional, mental und spirituell. Während wir das entspannte stetige Gewahrsein üben, mit allem, was wir erfahren, verschwindet nach und nach die Überzeugung, dass es starke und intensive Reize von außen braucht, um den Panzer unserer Anspannung und unseres Nichtspürens zu durchdringen. Indem wir berührbarer werden, fühlen wir wieder eine Art sinnlicher Verbundenheit auch mit den kleinen und subtilen Dingen des Lebens. Um uns „ekstatisch“ zu fühlen, bedarf es zunehmend keiner besonders spektakulären Ereignisse mehr. Wir kommen in Kontakt mit großer Lebensfreude und einem beständigen Staunen über die aufregende Vielfalt und Schönheit der Welt, und begreifen, dass das wahre Leben hier und jetzt stattfindet und nicht in einer fantasierten exotischen Parallelwelt.
Tantra ist keine Technik, sondern kontinuierliche Praxis im Leben
Eine solche grundlegende Neuausrichtung braucht ihre Zeit und beständiges Üben. Es geht nicht darum, eine bestimmte Technik zu erlernen, sondern um eine kontinuierliche Praxis des entspannten Präsentseins – bei den banalsten täglichen Verrichtungen ebenso, wie beim Auftauchen von Emotionen, in der Verwirrung, im Kontakt mit anderen, oder in der Meditation.
Präsent zu sein mit allem – ohne auszuweichen oder zu bewerten – bedingt auch, dass wir uns auf einer tiefen Ebene selbst annehmen müssen. Das heißt, dass wir uns aufrichtig und beherzt mit jenen Bereichen in uns befassen, die wir ablehnen, verdrängen oder abspalten. Auch mit unseren Ängsten, Widerständen, destruktiven Gewohnheiten, unschönen Wesensanteilen. Damit ist einige ernsthafte Arbeit verbunden, die manchmal richtig mühsam und schwierig sein kann. Doch wenn wir ganz und gar mit dem Leben mitschwingen möchten, geht es auch für uns als Individuum darum, zur inneren Ganzheit zurückzufinden und die versprengten Teile unseres Wesens zurück nach Hause zu holen.
Wenn wir auf diese Weise praktizieren, werden uns manchmal echte „ekstatische Erfahrungen“ geschenkt. Wir dürfen dann in einen Wirklichkeitsbereich eintreten, der uns eine völlig neue Perspektive auf uns selbst und die Welt ermöglicht. Wir erleben vielleicht innere Räume, in denen uns archetypische oder essentielle Wahrheiten offenbart werden, oder fühlen uns auf innige Weise mit einem anderen menschlichen Wesen oder der gesamten Schöpfung verbunden. Selbst wenn der Kontext nicht explizit sexuell ist, wohnt diesen Erfahrungen oft eine erotische oder leidenschaftliche Komponente inne: wir fühlen uns auf das Intimste berührt, unser Herz lodert, wir entflammen in Liebe und möchten nichts anderes, als uns dem Geschehen mit Haut und Haar einfach hinzugeben.
Ekstase ist ein Geschenk, das wir nicht festhalten können
Für Momente, vielleicht sogar Tage oder Wochen, können wir uns in einem Zustand der Verliebtheit befinden, die nicht mehr auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist, sondern sich überall dort manifestiert, wo unser Blick hinfällt. Unser Herz fließt über. Wo immer wir uns hinwenden, strahlt dieselbe Liebe zu uns zurück. Der Wind, der durchs hohe Gras weht, die tanzenden Halme im Sonnenlicht, ein unter dem Gewicht einer Hummel erzitternder Blütenkelch, lassen uns innerlich erschauern. In unserer Sexualität machen wir vielleicht die beglückende Erfahrung, dass wir uns vollständig unserem Körper anvertrauen können, der uns zu einer freudigen Spontaneität führt – hinein in einen natürlichen Fluss voller Lebendigkeit und vibrierender Präsenz, der jegliche sexuelle Strategie hinter sich gelassen hat. Die kleinsten Berührungen erreichen unser tiefstes Inneres und schicken Wellen durch unseren Körper und darüber hinaus. In diesen Augenblicken wird unsere Sexualität zu einer Huldigung an die gesamte Existenz, die von derselben pulsierenden Lebendigkeit durchdrungen ist, wie wir selbst.
Doch auch diese Erfahrungen gehen vorüber und wir gleiten aus dem Paradies zurück in unsere nackte unvollkommene Menschlichkeit (auch wenn wir vielleicht mit einem neuen inneren Referenzpunkt zurückkehren). Jetzt stehen wir vor der Herausforderung ganz loszulassen und auch mit der Bewegung der Veränderung in voller Präsenz mitzugehen. Im Wissen, dass wir authentische Erfahrungen weder erzeugen noch festhalten können, richtet sich unser Bewusstsein weiterhin in den unendlichen Raum, in dem alle Dinge entstehen, und irgendwann auch wieder vergehen.
Wenn wir unsere fruchtlosen Bemühungen aufgeben, die rauschende Welle einer ekstatischen Erfahrung mit einem Lasso einfangen und für immer anbinden zu wollen; oder uns gegen jede unerwünschte Erfahrung reflexartig mit Schild und Schwert zur Wehr zu setzen – wenn wir also lernen, mit allem zu sein, was ist – öffnet sich ein weiter Raum der Möglichkeiten, in dem das Leben von Moment zu Moment neu entsteht: frisch, spontan – und wir selbst staunend und hellwach mittendrin. Wenn es uns gelingt, mit diesem Fluss zu sein, ohne Wenn und Aber – das ist Ekstase pur. Es ist eine Ekstase, die alle Aspekte des Lebens durchdringt und auch die Ebene der Sexualität mit dem aufregenden Zauber der Gegenwart erfüllt.