„Safe Space“ – Überlegungen zu einem subtilen Thema

Was ist Selbstentfaltung?

Ich möchte heute über eine Thematik schreiben, die nun auch in unseren Gruppen vermehrt auftaucht: Menschen postulieren das Modewort „Safe Space“ in Zusammenhang mit der Erwartung, während des Gruppenprozesses vor jeglichen unangenehmen Gefühlen beschützt zu werden. Es sei Aufgabe der Gruppenleitung, so wird impliziert, zu gewährleisten, dass diese Erwartung stets erfüllt werde. Sollte dennoch jemand mit einem Gefühl in Kontakt kommen und z.B. weinen, kann man erleben, wie 4-6 TeilnehmerInnen sich beschwichtigend auf diese Person stürzen, sie von allen Seiten umarmen und das aufkommende Gefühl regelrecht niederwürgen. Dem Leitungsteam wird mit anklagenden Blicken klargemacht, dass hier gerade etwas Ungeheuerliches passiert, was eigentlich nicht hätte passieren dürfen, ein schwerer Fehler der inkompetenten Leitung, den nun die Gruppe auffangen muss. Und gelegentlich wird die ultimative Keule ausgepackt: hier wird gerade ein Mensch „re-traumatisiert“.

Trauma und Re-Traumatisierung

Zur Klarstellung: ich bin ausgebildeter Traumatherapeut und habe viele Jahre damit zugebracht, das Wesen von Trauma nicht nur theoretisch, sondern auch subjektiv zu verstehen und unsere Arbeit dementsprechend auszurichten – also mit möglichst wenig Druck zu arbeiten, Raum zu geben, traumatisierte Menschen zu erkennen, enger zu betreuen oder gegebenenfalls auch nach Hause zu schicken. „Re-Traumatisierung“ bedeutet: jemand ist bereits traumatisiert, leidet also an einer posttraumatischen Belastungsstörung und erlebt nun ein erneutes Trauma, das Aspekte der früheren Gewalt- und Ohnmachtserfahrung in sich trägt, wodurch sich die bereits vorhandene Symptomatik verschlimmert. Hat jemand bereits sexuellen Missbrauch erlebt und gerät im Rahmen eines Tantra-Seminars in eine ähnliche Situation z.B. mit dem Leiter, so kann man von Re-Traumatisierung sprechen.

Aber nicht jeder Mensch ist traumatisiert. Nicht jeder erlittene Kindheitsschmerz ist ein Trauma. Für einen tatsächlich traumatisierten Menschen, der akut an einer Trauma-Symptomatik leidet, ist der Besuch einer Selbsterfahrungsgruppe allerdings überhaupt nicht anzuraten. Hier gibt es nur einen Weg: die traumatischen Ereignisse im Rahmen einer kontinuierlichen Einzeltherapie mit gut ausgebildeten ExpertInnen aufzuarbeiten.

Doch bei der oben beschriebenen Dynamik geht es in der Regel nicht um schwer traumatisierte Menschen. Es geht eher um ein narzisstisches Verständnis von Subjektivität, wo jedes Subjekt als ein verletzliches Wesen gesehen wird, das Schutz in Form komplexer Regeln braucht und vor allen möglichen Störungen, von denen es potenziell heimgesucht werden könnte, vorweg gewarnt werden muss.

Über den jungen Mann habe ich schon einmal geschrieben, der sich nach einer Übung anklagend vor uns aufgebaut und empört gesagt hat: „Ich bin mit einem Gefühl in Kontakt gekommen! Das will ich aber nicht! Dafür bin ich nicht hier! Dafür habe ich nicht bezahlt!“

Arbeit mit Emotionen: ein Grundpfeiler jeder inneren Arbeit

Das ist verblüffend, nachdem jede Wachstumsarbeit im Grunde damit zu tun hat, einen guten Umgang mit auftauchenden Emotionen zu finden. Nichts kann innerlich entspannen, wenn Emotionen ausgeklammert oder unterdrückt bleiben. Emotionen verschwinden nicht, wenn sie betäubt werden. Ablenkung und Oberflächlichkeit sind auch kein Ausweg. Je weniger Angst vor Emotionen, innen und außen, umso größer das subjektive Gefühl der Sicherheit. Und um Angst zu verlieren, muss man sich portionsweise mit auftauchenden Emotionen auseinandersetzen, sie verstehen und sie verdauen.

Mit großem Staunen habe ich in der Hochglanzbroschüre eines Seminaranbieters den Satz gelesen, dass an diesem Institut jede/r Teilnehmer/in sicher sein könne, mit nichts konfrontiert zu werden, was unvorhergesehen wäre. Wow – das erinnert mich an Mütter, die versuchen, ihre Kinder von allen Unreinheiten, Bakterien und Viren fernzuhalten und damit bewirken, dass sie kein starkes Immunsystem ausbilden. Und an den österreichischen Philosophen und Therapeuten Paul Watzlawick, der irgendwo sagt, dass man auch dann nicht in Sicherheit sei, wenn man zu Hause im Bett bleibe, denn es drohe die Gefahr des Wundliegens.

Natürlich – jede/r gute Gruppenleiter/in wird die Gruppendynamik und die einzelnen Menschen in seiner Gruppe im Auge behalten und bemüht sein, keine Überforderungen oder unnötigen Stress zu kreieren. Doch niemand kann andere Menschen vor ihren Gefühlen schützen, die bei jeder ernsthaften inneren Arbeit zwangsläufig auftauchen werden. Die Arbeit mit Selbsterfahrung und innerem Wachstum kann sich unseres Erachtens nur dann im realen Leben bewähren, wenn sie Selbstermächtigung und Empowerment der Menschen im Blick behält und darauf abzielt, sie so zu stärken und zu unterstützen, dass sie aus eigener Kraft mit den Dingen des Lebens umgehen können – z.B. Grenzen setzen, für sich selber einstehen, Entscheidungen treffen, proaktive Handlungen setzen, Verantwortung übernehmen.

In Zusammenhang mit der „politisch korrekten Besessenheit“ an Universitäten, Individuen vor jeder Erfahrung zu schützen, die sie irgendwie als verletzend empfinden könnten, hinterfragt der slowenische Philosoph Slavoj Zizek in seinem Text „das Leben ist nun einmal krass“ die Grundprämisse „Studenten müssen sich sicher in den Klassenzimmern fühlen“ und kommt zu dem Schluss: „Nein, müssen sie nicht. Vielmehr müssen sie lernen, die Komfortzone zu verlassen, sich offen mit all den Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten des realen Lebens zu konfrontieren und dagegen zu kämpfen.“

„Safe Space“ in Wachstumsgruppen, die mit Sexualität arbeiten

Aber kommen wir zurück auf den Begriff „Safe Space“ und schauen wir, wie er im Internet definiert wird: „Der Begriff „Safe Space“ oder neuerdings „Safer Space“ bezieht sich auf einen Ort, eine Umgebung oder eine Gemeinschaft, in der Menschen sich sicher, geschützt und akzeptiert fühlen können. Es ist ein Raum, der darauf abzielt, eine unterstützende und nicht urteilende Atmosphäre zu schaffen, in der Individuen frei von Vorurteilen, Diskriminierung oder Missbrauch ihre Meinungen, Gefühle und Erfahrungen teilen können.“

Das ist genau jene Umgebung, die wir in allen unseren Veranstaltungen anstreben – und in den allermeisten Seminaren gelingt das auch: einen Raum zu schaffen und zu halten, in dem alle mit ihren Themen da sein, entspannen, sowie Vertrauen und Sicherheit empfinden können.

In Seminaren, die mit der Befreiung der Sexualität arbeiten, hat „Safe Space“ oft auch noch eine weitere Bedeutung: darauf vertrauen können, dass ich keinen sexuellen Übergriffen ausgesetzt bin, wenn ich mich in die verletzliche Position begebe, meine Sexualität zu erforschen. Sicher sein können, dass die Leiter und das Team immer eine klare Grenze wahren und sich nicht auf intime oder sexuelle Begegnungen mit TeilnehmerInnen einlassen.

Diese ethischen Richtlinien sind am ARUNA-Institut – sehr zum Unterschied zu anderen Anbietern – von Anbeginn an eine Selbstverständlichkeit. Denn in der sogenannten internationalen Neo-Tantra-Szene (der wir uns nicht wirklich zugehörig fühlen), gibt es derzeit einen regelrechten Tsunami an Missbrauchs-Anschuldigungen gegenüber Leitern im Kontext von Seminaren und Trainings.

Es ist gut und richtig, dass solche Übergriffe ans Licht kommen, und gründlich aufgearbeitet werden.  Und natürlich stimmen wir der grundlegenden Idee zu, dass jede Art von sexueller Betätigung zwischen zwei oder mehreren Menschen das Ergebnis einer freien und bewussten Entscheidung der involvierten Personen sein sollte. Aber wo kommt der Punkt, wo mit dem Bemühen, die Gefahren der Sexualität einzuhegen, auch alles miteliminiert wird, was Sexualität so schön und aufregend macht?

Slovoj Zizek schreibt: „Sex ist gefährlich und bringt die Menschen buchstäblich an ihr Limit. Denn es gibt keinen Sex, wenn zwei Wesen, die sich aneinander freuen, nicht bereit sind, im entscheidenden Moment die Kontrolle zu verlieren. Plötzlich geben sie bedrohliche Laute von sich, sagen etwas Unpassendes, werden grob. Zweideutigkeit, Kontrollverlust, körperliche Intensität: All dies ist in der abgedämpften Welt der Political Correctness nicht mehr vorgesehen.“

Im Rahmen unserer Veranstaltungen haben wir bisweilen den Eindruck, dass manche Menschen generell vor Sexualität geschützt werden möchten, indem sie davon ausgehen, dass es beim „Tantra“ sanft und geregelt zugeht, mit langsamer Schritt-für-Schritt-Anleitung, sodass garantiert nichts Unerwartetes auftauchen wird. Aber werden erotische Energie und sexuelles Begehren nicht genau dadurch im Keim erstickt, wenn Spontaneität und überraschende Elemente ausgeklammert bleiben und nur noch eine vorher festgelegte, voraussehbare Choreographie übrigbleibt?

Und was, wenn die Trigger für manche Menschen bereits sehr niederschwellig greifen; wenn z.B. eine Frau (aus freien Stücken bei einer Tantra-Intensivgruppe erschienen), während einer Übung mit ihrem eigenen Ehepartner plötzlich empört hinausstürmt und von Re-Traumatisierung spricht, weil sich andere nackte, bzw. leichtbekleidete Menschen im selben Raum befinden? Müssen sich nun alle sofort wieder anziehen? Ist ein Setting mit mehreren nackten bzw. leicht bekleideten Menschen in einem Tantra-Seminar nun ethisch nicht mehr vertretbar?

Wir leben in eigenartigen Zeiten, wo bald jeder für sich in Anspruch nehmen möchte, sich durch alles Mögliche beleidigt, verletzt oder traumatisiert zu fühlen. Es liegt auf der Hand, dass es im Rahmen der tantrischen Arbeit nicht möglich und auch nicht anstrebenswert ist, sämtliche eventuellen Trigger zu entfernen. Gerade der tantrische Weg lebt schließlich davon, Gewissheiten in Frage zu stellen und sich angesichts von Neuland ein Herz zu fassen und mutig weiterzugehen. Wir können als Leiter also nur weiterhin ehrlich versuchen, aus dem Herzen zu arbeiten und anderen Menschen mit Empathie, Freundlichkeit und Unvoreingenommenheit zu begegnen – was meistens gelingt und bei anderen auch so ankommt – und gleichzeitig dazu ermuntern, eigene Stärke, Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortlichkeit zu entwickeln. Unserem Gästebuch kann man entnehmen, dass dieser Ansatz von den allermeisten Teilnehmer*innen verstanden und wertgeschätzt wird (https://www.aruna-tantra.de/aruna-institut/gaestebuch/).