Der vergebliche Versuch, unsere Erfahrungen zu kontrollieren
Auf einer unserer letzten Veranstaltungen kam nach einigen Tagen ein Mann in einer Pause auf uns zu und beschwerte sich darüber, dass er in der vorhergehenden „Übung“ mit einem unangenehmen Gefühl in Kontakt gekommen sei. „Dafür habe ich nicht bezahlt“, meinte er voller Empörung. Er wolle das nicht erleben, dafür sei er nicht hergekommen.
Diese Situation hat uns zunächst einfach nur erstaunt, später aber auch sehr betroffen gemacht, weil sie auf eine so überspitzte und komische Weise demonstriert, wie sehr ein Mensch versuchen kann, seine Erfahrungswelt zu kontrollieren. Und wir haben uns gefragt: Machen wir das nicht alle so – mehr oder weniger? Sind wir nicht selber ständig damit beschäftigt, uns diese Erfahrungen herbei zu wünschen und jene Erfahrungen zu vermeiden? Und sind wir nicht alle Spezialisten darin, Schuldige im Außen zu finden, wenn wir mit Dingen in Kontakt kommen, die schmerzhaft oder unangenehm sind (nach dem Motto: wer ist schuld daran, dass ich gerade fühlen muss, was ich doch gar nicht fühlen will?) Und bildet diese duale Aufsplittung in Gutes und Schlechtes, Gewünschtes und Unerwünschtes, Ersehntes und Gemiedenes, nicht das Fundament jener Struktur, die wir „Ego“, „kleines Ich“ oder „Persönlichkeit“ nennen? Und muss es nicht Ziel jeder ernsthaften „inneren Arbeit“ sein, diese Aufspaltung zu überwinden und zu realisieren, dass wir vergeblich gegen den Strom des Lebens schwimmen, solange wir bestimmte Bereiche in uns idealisieren, während wir versuchen, andere Bereiche in uns auszuradieren?
Tantra umarmt alles
In der Perspektive des ursprünglichen Tantrismus ist die Welt ein Abbild unserer selbst, daher kann keine ihrer Ausdrucksformen uns fremd sein. Was wir sehen, vom Abscheulichen bis zum Heiligen, sind immer wir selbst. Deswegen muss jede innere Arbeit mit einer bedingungslosen Akzeptanz dessen beginnen, was wir tatsächlich sind. Während wir unser inneres Universum erforschen, geht es also darum, vollkommen anzunehmen, was wir in diesem Moment gerade sind. Sich einer solchen Akzeptanz anzunähern ist kein einfaches Unterfangen, denn es setzt die Bereitschaft voraus, auch in seine eigenen Dunkelzonen einzutauchen und bis in die finstersten Ecken vorzudringen. Alles, von dem wir fälschlich glauben, wir hätten es bereits hinter uns gelassen; was wir nicht sehen wollen; was wir verdrängen – alles das wird früher oder später zu einem Hindernis auf unserem Weg, an dem wir uns stoßen werden. Denn solange wir es verleugnen, wächst es heimlich im Dunklen weiter und gewinnt dadurch erst recht Kraft über uns.
Wir alle wissen, dass wir auf unserem Weg immer wieder an Punkte kommen, an denen unser innerer Fluss ins Stocken gerät: ein Thema taucht auf, gegen das wir uns wehren oder mit dem wir nicht zurechtkommen; wir beißen uns in einer Emotion fest, die wir nicht loslassen möchten; wir erleben etwas, was unseren Vorstellungen widerspricht und versinken im Widerstand; wir lassen uns von den alltäglichen Gegebenheiten in einem Maße ablenken, dass unsere äußeren Aktivitäten uns an der bloßen Oberfläche unseres Lebens arretiert halten; oder wir erwarten von anderen, dass sie uns bestätigen, und verlieren uns, indem wir ihnen unsere Kraft abgeben.
Mitfließen mit der Welt
Und so ist es eine grundlegende Ausrichtung unserer Arbeit mit Menschen, wieder ins Fließen zu bringen, wo etwas ins Stocken geraten ist und Beweglichkeit zurück zu bringen, wo etwas starr geworden ist. Dazu ist es oft nötig, wieder genau hinzuspüren, unvoreingenommen zu lauschen, neu zu erforschen. Wir müssen uns auch all jenen Bereichen in uns zuwenden, die wir aus unserer Erfahrung ausgeklammert haben und sie wieder re-integrieren: in unser Bewusstsein, in unseren Körper, in unser Selbstgefühl. Und gleichzeitig geht es auch darum, unsere inneren Muskeln zu trainieren, damit wir mehr Liebe, mehr Wohlgefühl, mehr Intensität, mehr Raum in uns zulassen und aushalten lernen.
Wenn die Rede davon ist, dass Tantriker die „Welt in ihrer Gesamtheit umarmen“ möchten, dann ist damit diese innere Akzeptanz gemeint, die alles miteinschließt. Sie ergibt sich aus dem zunehmenden Bewusstsein der Weite; des Raumes, in dem alles in Bewegung ist – Dinge tauchen im Raum auf, bewegen sich durch den Raum, bevor sie wieder in ihm verschwinden. Man übt, bewusst und aufmerksam mit allem zu sein, was sich jeweils präsentiert – muss also in der Lage sein, unmittelbar mit dem was ist, mitfließen und es danach wieder völlig loslassen zu können (was die Entwicklung großer Beweglichkeit und Spontaneität voraussetzt).
Ein tantrisches Grundprinzip lautet: das Leben selbst ist der Weg und die Praxis. Indem wir annehmen, was das Leben uns präsentiert, ohne zeitraubenden Widerstand und sinnloses Klagen; indem wir lernen, mit Herausforderungen umzugehen, schnell darauf zu antworten und uns durch sie hindurch zu bewegen (statt uns von ihnen weg zu bewegen), wachsen und reifen wir. Ein Leben, das zu einer echten Praxis werden soll, setzt Berührbarkeit voraus – den Verzicht, sich abzuschotten; die Bereitschaft, auch die eigenen Verletzlichkeiten zu konfrontieren. Es ist eine immer wiederkehrende „Kriegeraufgabe“, sein Herz auch dann offen zu halten, wenn es weh tut. Leben, das heißt immer: voller Kontakt, all inclusive, mit Haut und Haar – und für diesen Kontakt brauchen wir ein offenes Herz. Und jedes menschliche Herz möchte ja auch in seinem tiefsten Grund offen sein und lieben; denn es ist einfach seine tiefste Natur, ein fühlendes Herz zu sein.